Schmirma
eine Wanderung in 20 Bildern

oder wie man Karl Völker wiederentdeckt

1Schmirma. Was ist das. Ein Dorf. Es hat 250 Seelen, gehört zur Gemeinde Öchlitz, Landkreis Merseburg-Querfurt, Kirchspiel Mücheln, und liegt nahe dem Geiseltal. Die Namen der Gegend lesen sich wie das Ortsregister einer expressionistischen Erzählung. Während ich da hinfahre, empfinde ich das nicht. Die Landschaft ist ereignislos und wird, da der Tagebau geschlossen ist, renaturiert. Aus der Schürfgrube von ehemals entsteht ein Flutwassersee. Die Ufer werden schon verkauft, aber man glaubt es kaum. Der Krater sieht apokalyptisch aus, wer wird da wohnen? Halle ist so nahe und entfernt wie die neue Zeit, die im steigenden Wasserspiegel verheißen ist. Und mit der Frage, ob das irgendwas zu bedeuten habe, kann ich ruhig weiter nach Schmirma wandern. Dann betrete ich die Kirche des Dorfes und bin doch irgendwie Expressionist.

Darauf bin ich nicht gefaßt. Denn das Gotteshaus aus Naturstein ist schlicht und verbirgt, wie die Landschaft, was es zu verheißen hat. Im Dehio, dem Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, steht nicht, was mich erwartet. Nur, daß der Bau sei 1699 unter Einbeziehung eines romanischen Chorturmes überformt worden sei. Man sieht es am barocken Zwiebelturm mit den Spitzweg-Uhren und an den großen Fenstern mit den leichten Rundbögen. Geschrieben steht auch, daß es drinnen einen Kanzelaltar gibt mit bemaltem Korb, darstellend Petri Fischzug. Innen Flachdecke und bemalte Hufeisenempore …[1] [Georg Dehio. Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle. Akademie-Verlag, Berlin 1978, S. 340]

Niemand müßte nach dieser Beschreibung bitter werden, wenn die Kirchenpforte verschlossen wäre, wie meistens. Gelangt man doch hinein, ändert sich das. Die Flachdecke ist mit sakralen Bildern von hoher Festlichkeit überzogen, entstanden 1921. Sie haut mich um. Und was mir spontan dazu einfällt, nimmt unweigerlich den Praktikantenton begeisterter Willigkeit an: Dieser Kirchenraum ist eine Kostbarkeit ersten Ranges, nicht nur für Sachsen-Anhalt, sondern eine von nationaler Geltung! Aber es ist wahr. Und so werde ich nach der ersten Erhitzung auch etwas blaß. Ein Blick in die Zukunft: Hier ist ein noch auszuschreibendes Ziel für alle, die in dieser zersprengten Kulturregion auf Entdeckungsreise gehen wollen. Für alle, die an den Zeugnissen von 1000 Jahren ungeheurer Kräfteverschiebungen zwischen Christianisierung, Protestantismus und Katastrophenindustrie noch nicht genug haben, während sie die Straße der Romanik rauf und runterdudeln. Jeder Hasenweg ist hier längst erschlossen. Die Kirche von Schmirma nicht. Sie wird von Wohlfühltouren kaum gestreift. Wer die Besinnung wiederfindet, wünscht sich fast, es sollte so bleiben. Allerdings wäre das schade. Hier ist etwas nachzutragen und einem Künstler die Ehre zu erweisen, von dem man immer noch zu wenig weiß. Was hier geschaffen wurde und seltsam unbemerkt blieb, müßte sogar die matten Herzen der Bildungsträger höher schlagen lassen – eine vollständig erhaltene Kirchendekoration der späten Moderne, gemalt von Karl Völker (1889–1962) – das gibt es nicht. Doch!

Und wie. Trotz der maigrünen Wände, die arglose Hände vor ein paar Jahren baumarktgerecht angestrichen haben, um den Raum wieder schön zu machen, ist die Harmonie überwältigend. Sie ergibt sich aus der Vollständigkeit und dem organischen Ganzen der Ansicht. Alle architektonischen Verhältnisse und die den Gottesdienst ermöglichenden Einbauten sind in die Gestaltung einbezogen. Gestühl, Empore, Orgel und Deckenrahmen sind, wie ehedem die Wände, von warmem Ocker. Die geschwungenen Wandungen, die jenen Kanzelaltar an der Stirnwand umgeben, zieren schwebende Pflanzenornamente. Das Grün, Blau und Rot aber, das einem aus den Blüten und Blättern entgegenfunkelt und sich auch an den Wangen der Bankreihen wiederfindet, erfährt ein gewaltiges Echo in der Deckenmalerei. Ich bin umhüllt vom Wohlklang reiner Komplementärfarben. Sie scheinen selbstvergessen mit sich selbst zu spielen und erfüllen den Raum mit einem alltagsfernen Licht.

2Ich stehe in dieser Kirche wie in einer Schatztruhe und bin von dem schwingenden, in sich verwiesenen Farbgeschehen wie gefangen, bevor noch Gelegenheit ist, sich mit den Einzelheiten zu befassen. Dann aber werde ich einer Episodenreihe gewahr, die von Kassette zu Kassette einzeln aufgegliedert ist. Beim Weitergehen sehe ich eine in 14 Segmente gegliederte Decke und darin auf Leinwand gemalte Szenen aus dem Leben Jesu. Auf der Südseite Die Anbetung der Hirten, Das Abendmahl, Der Einzug nach Jerusalem und Christus mit den Kindern. Gegenüber Ruhe auf der Flucht, Christus am See Genezareth, Die Speisung sowie Christus und die Sünderin. Im Mittelfeld, das den ganzen Bereich von der Orgel bis zum Altar durchmißt, glüht in Richtung Altar die Kreuzigung und zum Ausgang hin die Himmelfahrt Christi. Zwischen beiden Szenen eine unfaßbare Tiefe aus reinem Blau. Dieses Blau konstituiert den Geist der ganzen Kirche und ist bestimmt kein Himmel. Jedenfalls keiner, der in der Nähe von Schkopau und Mücheln vorkommen könnte. Es dringt in alle Bilder und ist eine Behauptung, ein kosmisches Dehnen, der Stimmungsträger einer Art erfüllter Leere, das Jenseits einer Verheißung, nichts Irdisches. Ein Blau der Entkörperlichung, der Bezeichnung, ein Geistiges. Es steigert jeden anderen Farbton, der in dieser Kirche vorkommt, über sich hinaus. Die Handlungsträger bekommen dadurch eine leuchtende Eigenwertigkeit, die dann, wie die Christusgestalt, in flammendem Rot aufgehen oder in Grün und Erdfarbigkeit. Die Kleider werden wie die kargen Naturandeutungen in ihrer Anmutung aufgeheizt. Das Blau, das auch an Einzelfiguren wieder auftaucht, bindet die Handlung in das Fest der Farben. Alles hier will in die Geborgenheit einer sich vertrauenden Welt.

Ich sehe die schnörkellos aufgebauten und in strenge Umrisse gefaßten Figuren – und fast nur sie. Sie sind von formatfüllender Größe und scheinen kaum etwas zu tun. Sie zeigen nichts als das, wovon je einzeln berichtet wird. Sie tragen die langen Gewänder biblischer Zeitlosigkeit. Keine Details, kein Zierrat. Alles ist sofort klar, auch das jeweilige Thema. Die Tuniken brechen in wenige, die Handlungsarmut dramatisierende Falten. Sie rhythmisieren die Gruppen auf der Bildfläche und fangen die Bewegungen der Einzelfiguren ebenso auf wie sie diese unterstreichen. Die Körper selbst sind reliefartig aufgebaut und in die Fläche fest eingebunden. Der Hintergrund bleibt überall eher aufgerichtet, als die Illusion perspektivisch korrekter Ansichten zu verbreiten. Er organisiert die Gesamtfläche, indem er das Gefühl für den Tiefenraum linear und flächengewiß untergräbt. Die Bilder leben von diesen bindenden Linienschwüngen und den scharfen Konturen, die das Geschehen mit Energie füllen und die Beziehungen des Einzelnen mit dem Ganzen genau definieren. Alles ist statisch, konzentriert und großartig gebaut. Dazwischen die zeigenden Hände, die den Blick leiten und ihn in der Szene halten. Ich bin berührt, weil ich mich überall angesprochen fühle und doch bei mir selber bleiben kann.

3Diese Flachdecke hat nichts zu tun mit dem, was man kennen könnte. Sie ist tief und tönend, aber unnachgiebig schematisiert. Sie ist voller Pracht, aber ohne Virtuosität. Sie ist in der Formensprache überall karg und künstlerisch doch vom Elan reiner, fast demonstrativer Überzeugtheit getrieben. Denn sie ist nicht durchfurcht von undeutlich drängenden Gefühlen gehobener Inbrunst. Den Kirchenraum erfüllt eine treue Gewißheit und ein bejahendes Grundgefühl, das ohne Euphorie und Trostseligkeit auskommt. Andacht wird hier möglich als Erwartung des Erfüllbaren. Und die Glaubwürdigkeit des gesamten Raumes sanktioniert so auch den Glauben und das Glauben. Ein heiliger Ort. Durch Kunst.

Das wagt man kaum noch hinzuschreiben. Kunst für Gefühle, Kunst in Funktionen, die sie in diesem Jahrhundert kaum noch etwas anzugehen scheinen, weil sie ihre Autonomie infragestellen würden. Kunst, die von den Seelen der Schmirmaern nichts will, als sie für den Augenblick zu erheben und mit Hoffnung zu begaben. Kunst, die sich einer Aufgabe unterstellt, statt zu dekretieren … Das klingt ziemlich verschollen. Folgt man dieser Betrachtungsweise, könnte ohnehin jeder denken, es handele sich um eine archaische Bildanlage aus monumentalisierten, also auch typisierten Leibern und Gesichtern, wie sie vom frühen Mittelalter herüberstarren – Weihe, Entferntheit, Reichtum der ideellen Schranke. Und doch kann sich niemand in der Zeit irren, der sich diese Bilder verdanken. Zu deutlich tritt in dem ganzen Geschehen das Wissen um die Formradikalisierungen hervor, wie sie die Künstler vor 90 Jahren durchexerziert haben. Zu demonstrativ der Rigorismus, mit dem hier die Figurenballungen auf den Fühlpunkt der Erzählung hin organisiert sind. Und was einem im einzelnen wie im Ganzen vor Augen steht, ist zu fern von jedem Naturvorbild, um an irgendein Ringen mit dem Erlaubten zwischen Wahrnehmung und Wahrnehmung noch zu denken. Diese Bilder geben die künstlerische Summe ihrer Epoche und reichen sie an etwas Neues weiter, das darauf keine Antwort weiß. Darum ist dieses Werk mindestens ebenso schwer festzulegen wie der Künstler, der es hervorgebracht hat. Karl Völker, der Hallesche Maler und Architekt, das Stiefkind der Provinz. Denn sein Frühwerk unterliegt, wie anderes von ihm auch, den Verhängnissen einer teils verdorbenen, teils verstummten Rezeptionsgeschichte. Wie ist das zu erklären? Es läßt sich eine ebenso triviale wie folgenschwere Deutung wagen: Die Werkgruppe wurde seit Jahrzehnten übergangen, weil ihre Erwähnung dort, wo es zur Kenntnisnahme wichtig gewesen wäre, nirgendwann willkommen war. Und zwar aus historisch immer anderen Gründen, mit aber immer demselben Ergebnis. Wer den Einzelheiten nachgehen will, bewegt sich am besten rückwärts in die Geschichte, damit sich der Fächer der Zusammenhänge vorsichtig ausbreiten kann.

4Der Dehio über die Kunstdenkmäler des Bezirkes Halle, der oben zitiert wurde, ist 1978 erschienen, bearbeitet von der Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege. Mit einigem Gutsinn läßt sich also annehmen, daß die Denkmalpfleger das Kunstwerk übergingen, um es zu schützen. Schließlich wurden der Expressionismus und die frühe Moderne zu dieser Zeit noch nicht als erbewürdig angesehen für die DDR. Was in der übrigen Welt längst Avantgarde hieß, galt im Kulturbereich Kurt Hagers immer noch für bürgerlich geirrt und als Propaganda der anderen Seite. Deshalb läßt sich auch nicht sagen, ob es der Gehorsam unter Lektoren war, an das Unliebsame besser nicht zu rühren, solange die Kultur umging. Oder ob sich hier die gediegenere Vorsicht der Konservatoren mitteilt, im Zweifel schweigend für das Denkmal zu stimmen. Dann schien Flachdecke vorläufig besser.

Ein Durchbruch ins Offizielle erreichte die Kunst des Jahrhundertanfangs ja erst mit der Ausstellung in den Staatlichen Museen zu Berlin von 1986, wo die Expressionisten endlich die Avantgarde in Deutschland 1905–1920 repräsentieren durften. Völker allerdings kommt im hochrangigen Katalog nur in der Kette einer Namenaufzählung vor.[2] [Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland 1905–1920. Katalog. Staatliche Museen zu Berlin, 1986. Von den seinerzeit wegweisenden Aufsätzen ist besonders hervorzuheben: Erhard Frommhold: Politischer Expressionismus – expressionistische Politik, worin auch Völker genannt wird, S. 67] Und es fällt schwer zu glauben, daß diese Marginalisierung nur deshalb geschah, weil der Künstler das entlegene Dorf ein Jahr zu spät beehrt hatte, um dem Zeitrahmen des Ereignisses gerecht zu werden. Der Grund muß ein anderer sein, sonst wäre es nicht noch immer so, daß außer den Spezialisten kaum einer etwas von Schmirma weiß. Und nicht nur davon nicht. Völker wird im genannten Dehio nur einmal erwähnt, obgleich er in Mitteldeutschland während der 30er Jahre in fünf weiteren Kirchen tätig gewesen ist. Was weiß man von Kelbra, Holleben, Schneidlingen, Schwenda, Zwenkau? Ausgerechnet die Denkmalpflege hatte damals den unter Beschuß geratenen Künstler damit beauftragt, in abgelegenen Winkeln sein Bestes zu geben, damit der Entartete für seine Familie sorgen konnte. Das Kapitel, welch überragende Rolle gerade diese Institution für den Schutz und die interne Beauftragung verfemter Künstler während der Nazizeit gespielt hat, muß sicher ebenso noch geschrieben werden wie die über ihre Beschränkungen in den Jahrzehnten danach. Deutlich jedoch wird, daß selbst die Denkmalpflege nicht unberührt bleibt von den Querelen der Zeit. Sie kommt ihrer Bewahrungspflicht nach. Aktiv oder passiv.

5Karl Völker hatte seinen Teil jedenfalls getan. Und er bewegte sich während der Nachkriegszeit weiter auf dünnem Eis, wie alle, die keine Opportunisten waren. 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, entfaltete der Künstler eine beunruhigende Produktivität, vor allem in den angewandten Bereichen der Kunst. Er schuf zwischen 1947 und 1961 mehr als: 10 Wandbilder, Mosaiken oder sonstige architekturbezogene Arbeiten, die großartigen Glasfenster in der Thomaskirche in Erfurt und in thüringischen Dorfkirchen nicht gerechnet.[3] [Vgl. Peter Guth: Wände der Verheißung. Zur Geschichte der architekturbezogenen Kunst in der DDR, Leipzig 1995, S. 62, 78, 136, 399ff. Vgl. Beitrag von Sabine Meinel in diesem Katalog, wo die Einzelheiten bis hin zur Zusammenarbeit mit dem Architekten Haessler an Entwürfen für den Wiederaufbau Rathenows und des Zeughauses in Berlin ausgewiesen sind.]Dazu der Bebauungsplan des zerstörten Rathenow, die Rekonstruktionspläne für das Berliner Zeughaus[4] [Ebd, S. 403] … Aber was sagt das, wenn Völker schon 1946 zu beklagen hatte, er werde wegen von ihm gezeigter Bilder systematisch angegriffen. Ausstellungsführer versuchten, dem Publikum glaubhaft zu machen, daß meine Arbeiten unwesentlich seien.Vgl. Peter Guth: Wände der Verheißung. Zur Geschichte der architekturbezogenen Kunst in der DDR, Leipzig 1995, S. 62, 78, 136, 399ff. Vgl. Beitrag von Sabine Meinel in diesem Katalog, wo die Einzelheiten bis hin zur Zusammenarbeit mit dem Architekten Haessler an Entwürfen für den Wiederaufbau Rathenows und des Zeughauses in Berlin ausgewiesen sind.

Es blieb nicht dabei. Als eines der wichtigsten Werke des Künstlers 1955 in der Akademie der Künste zu Berlin gezeigt wurde (Karussell, 1931–1947), kam es in einem Atemzug mit Willi Sittes Bild von der Bergung – Hochwasserkatastrophe (1954) unter die Räder. Der Kritiker Cay Brockdorff schrieb: Während Völker Puppen und Holztieren eine mystische Scheinlebendigkeit verleiht, gestaltete Sitte lebendige Menschen zu hölzernen Phantomen um … Der Unterschied zwischen beiden besteht in der Tatsache, daß bei Völker bereits auf die Realität verzichtet wird, Sitte sich aber noch an die gesellschaftliche Thematik klammert.[5] [Cay Brockdorff. In: Günter Feist/Eckhart Gillen: Stationen eines Weges. Dokumentation zur Kunst und Kunstpolitik der DDR 1945–1988, Berlin 1988, S. 30]Mit Realismusferne konnte man damals ein ganzes Lebenswerk diskreditieren. Und die Kritik war nicht nur dumm in Bezug auf Völker. Auch Sittes Bild gehört zu den besseren aus dem Umkreis seiner Auseinandersetzung mit dem Kommunisten Pablo Picasso. Völkers Werk jedoch ist weit davon entfernt, von Picasso. Und von Sitte. Der Maler hatte es noch vor der Machtergreifung der Nazis begonnen und an ihm jahrelang weitergearbeitet, bis es endlich in sich trug, worum es ihm ging – ein Epochengefühl. Daher auch die Jahrmarksszene, wie man sie zwar bei vielen Künstlern dieser Zeit dargestellt findet. Nicht ohne Grund. Solche Motive (Rummel, Zirkus, Harlekin) bezeichnen existentielle Fragen des Künstlerdaseins. Das reicht bis auf Watteau zurück, und auch das sollte gesagt sein. Bilder wie dieses reflektieren Randpositionen, die Melancholie der Freiheit in sozialer Bindungslosigkeit, das Verabschiedete, die Ausgestoßenheit von Artisten aus bürgerlicher Immobilität und korrupter Wohlanständigkeit. Sie weisen aber auch auf das Kenntlichmachende am Volksfestvergnügen. Die Sause in den Zwängen einer arbeitsgrauen Welt.

6In Völkers Bild aber geht es um noch eine andere Nuance. Hier kreist das Karussell als eine Parabel der Angst, vor der einem das Lachen vergeht. Was sonst sich jauchzend schleudern läßt, hier rast es einem Abgrund entgegen. Die Holztiere, auf denen Kinder rittlings die Kurve nehmen sollen, sind starre Bretterfigurationen und blicken aus toten Augen. Sie sehen mit der vorstehenden Bewaffnung ihrer Schnäbel und Hörner eher gefährlich als niedlich aus. Auch sitzen die Kinder im Vordergrund gar nicht auf. Sie stehen, unkenntliche Rückenfiguren, vor der turbulenten Szenerie wie erfroren. Nur ein Mädchen blickt aus dem Bild, aber mit vor den Mund gehaltener Hand, als wenn ihm bange wäre. Mit den Holztieren stürmen weiter hinten andere Kinder und Personen dahin, ohne daß klar wäre, wer wo warum dabei ist. Niemand ist hier glücklich oder auch nur froh. In die rasende Fuhre dringt rechts ein maskierter, blickloser, böse lachender, ja was, Clown?, Antreiber?, Einpeitscher? Seine Rechte jedenfalls hebt einen Stab oder Knüppel. Über dem Ganzen liegt etwas Alptraumhaftes und Entfesseltes. Man spürt, daß hier im nächsten Moment etwas aus den Fugen gerät.

Um so mehr, als das gellende Geschehen im Bild vom Bild selbst ganz stillgestellt ist. Das Dämonische entrinnt einer raffinierten, geradezu kostbaren Farbigkeit, die der Groteske eine gefährliche Schönheit verleiht. Das warme, dunkle Rotbraun an dem gehörnten Tier, das ins Zentrum des Bildes ragt, ist unendlich fein untermalt. Man wird von dieser Zartheit irritiert, weil sie dem klotzigen Körper eine Würde schenkt, auf die man nicht gleich gefaßt ist. Etwas Mißbrauchtes und darin unschuldig Ergebenes wird plötzlich sichtbar. Ringsum Pastelltöne, aber nicht für die Leichtigkeit. Sie bedeuten eher ein Schwinden, ein Zurücksinken, eine Behutsamkeit und Vorsicht und machen aus dem Vortrag etwas Verrücktes, ein furchtbares Ahnen, das jenseits des Sujets zur eigentlichen Botschaft des Bildes wird. Der Maler hat nichts Erlebtes abgeschrieben, dargestellt, entnommen, den Zielen einer Realität angetragen. Da hat der Kritiker schon recht. Aber es ist die Wirklichkeit eines Gefährdungsbewußtseins, eine Sphäre der Beunruhigung hergestellt – und zwar ganz aus den Mitteln der Malerei. Kein Stil, keine erkennbare Gruppenverfügbarkeit, kein Modernismus, kein Realismus der Erhabenheit. Brockdorff mußte das abweisen, weil es sich um die Emanation einer Hoffnungslosigkeit handelte, die nicht erlaubt war im Kalten Krieg um eine kalt geteilte Welt. Es ist ein Bild von dem, wohin die Dinge des Leben zu laufen scheinen, weiter nämlich und weiter, im furchtbaren Kreise, schneller und schneller, bis man herunterfällt.

Ein beklemmender Befund. Er kommt von jemandem, der sich in den 20er Jahren der proletarischen Sache verschrieben hatte, der sich nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges von der SPD, in die er eben eingetreten war, in die SED übernehmen ließ, weil er sich dort unter denen glaubte, die als Macht von Unten endlich Gerechtigkeit durchsetzen konnten. Ein Maler, der zum subtilsten Gefühlsausdruck fähig ist, ohne sich selbst herauszustellen oder vorzudrängen, meldet Zweifel an. Und er hat Gründe dafür.

7Die Bezirkskunstausstellung Halle, die 1957 stattfand, wurde kunstpolitisch zu einem Exempel der Abtrünnigkeit gemacht. Auf der SED-Kulturkonferenz, die im gleichen Jahr niederkam, hatte Alexander Abusch die schlimmste Verirrung herausgehoben, zu der nach Meinung der Führung zu viele Künstler neigten: Völlig antihistorisch und antimarxistisch, für die Entwicklung unserer neuen, sozialistischen Kunst zersetzend ist deshalb die ›Theorie‹ des Genossen Graetz, der Expressionismus sei die Tradition des Realismus …[6] [Alexander Abusch. Ebenda, S.35]Die Expressionismusdebatte reicht bis in die Parteikämpfe der 20er und 30er Jahre zurück. Bei der Gelegenheit wurde sie auf ihren intellektuell niedrigsten Punkt gebracht, indem man die Leute einfach abkanzelte. Schluß damit!

Zum Durchgreifen gehört eine Kulturaktivtagung der SED in Halle, in deren Folge Intellektuelle und Künstler einer Gewissensprüfung unterzogen wurden. Völker blieb nicht verschont, wie Wolfgang Hütt berichtet. Nicht nur wegen seiner jüngsten Produktion, den Kreidegrundzeichnungen, die mit über 300 Arbeiten das Spätwerk des Malers ausmachen, sondern mit seinem gesamten künstlerischen Schaffen nach 1945.[7] [Wolfgang Hütt: Von der Verführbarkeit durch große Magier. Hintergründe zu den Kreidezeichnungen des halleschen Malers Karl Völker. In: Karl Völker. Kreidezeichnungen. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle 1999, S. 7ff. Zur gesamten Problematik: Verfemte Formalisten. Kunst aus Halle (Saale) 1945 bis 1963. Hg. von Dorit Litt und Matthias Rataiczyk. Kunstverein Talstraße, Halle 1998]Kennwerte der Erbefragen zur Moderne waren zu Formalismusfragen heruntergestimmt und wurden so als politische Lagerfragen betrachtet. Es kam zu existenzbedrohenden Polarisierungen, denen keiner entfliehen konnte. Es sei denn, er floh. Wer blieb, mußte dieses geistige Stillstellen erdulden auch als Stillegung über Jahrzehnte entwickelter Schaffenspositionen. Und Völkers Brief von 1946 zeigt, wie weit die Debatten zurückreichen.

Völker malt nach dem Krieg zwar weiter, weiter aber auch nebenbei. Er verläßt immer mehr das Tafelbild und widmet sich verstärkt dem Zeichnen, vielleicht eben auch, um sich den Auseinandersetzungen um die Königsdisziplin der ungebildeten Urteile, der Malerei, zu entziehen. Die Tatsache, daß sich der Künstler nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft vor allem der architekturbezogenen Kunst gewidmet hatte, erklärt sich auch vor diesem Hintergrund. Die Bevorzugung der Wand lag andererseits aber nahe, weil es beim Wiederaufbau der Trümmer genügend Sofortaufträge gab. Außerdem beherrschte Völker als Maler und Architekt handwerklich einfach, wozu andere erst in Form gebracht werden mußten.

Mit den Freiräumen und mit der Liberalität der Anfänge war es indes auch auf diesem Gebiet bald vorbei. Prominentestes und viel zitiertes, weil immer noch verstörendes Beispiel ist das Wandbild Trümmer weg, baut auf! von Horst Strempel in der Schalterhalle des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße. Es wurde 1948 begonnen und 1951 übertüncht. Eine tiefe Vertrauenskrise unter den Künstlern war die Folge. Andere begriffen. Öffentliche Aufträge wurden schon Ende der 40er Jahre mit einer Kampagne zur Kollektivierung der Künstlerschaft verbunden. Abnahmekommissionen fuhren vor, Brigadeausflüge wurden zu Veranstaltungen einer Kunstkritik aus dem werktätigen Volke. Sehr zu seinem eigenen Schaden wurde das Publikum von den Funktionären in seinem Ressentiment gegenüber der Moderne bestärkt, statt sie mit Hilfe der Künstler ausräumen zu helfen. Die Wandbilddebatten gehören zum trübsten Kapitel der Nachkriegskunstgeschichte. Festzuhalten bleibt, daß Karl Völker auch mit seinen späteren Wandbildern kein Glück hatte. Manches, wie die Fresken für die Halleschen Kammerspiele von 1947, wurde in der Folge zerstört, anderes blieb künstlerische Brotarbeit, drittes ist bis heute nicht zur Kenntnis genommen.

Das Desaster künstlerischer Lähmung wird sichtbar, nicht nur bei Karl Völker. Die Wandbilder Gleisbau und Fahrdienst, die er mit Karl-Erich Müller 1952/53 für die Reichsbahnbetriebsschule Weißenfels mühevoll, sagen wir: angefertigt hat, sind die Negation von Schmirma und Völkers künstlerischer Widerruf vor der allgegenwärtigen Glaubenskongregation der Partei – und genauso beklemmend. Die Folge: Der Künstler zieht sich immer mehr zurück. Viele seiner besten Kollegen aus Halle sind der Verdächtigungen müde und gehen in den Westen. Er zieht nach Weimar und experimentiert mit Glasgestaltungen. Als Maler wird er kaum noch wahrgenommen. An überregionalen Ausstellungen beteiligt sich Völker zuletzt nicht mehr oder er wird ausjuriert. Zu nennen wären beispielsweise die IV. Deutsche Kunstausstellung in Dresden 1958, aber auch die Ausstellung zum 10. Jahrestag der DDR, die ausgerechnet Mit unserem neuen Leben verbunden hieß, Berlin 1959. Drei Jahre später ist Karl Völker gestorben.

8Zu dunkel? Man wird dem entgegenhalten, der Künstler sei 1961 mit dem Kunstpreis der Stadt Halle geehrt worden. Zu sagen aber ist auch, daß diese Ehrung nur dazu beitrug, das Unkenntlichwerden Karl Völkers endgültig zu besiegeln. Diese Auszeichnung war kein Akt der Revision überzogener Urteile, sondern einer der geistigen Verpflichtung. Die Handreichung erfolgte, um Völker, der hiergeblieben war, im geschlossene System der sozialistischen Kunst festzuhalten. Doch das reichte nicht. In Artikeln der Zeitschrift Bildende Kunst von 1970 und 1974 wurde die Rolle Völkers in der proletarisch-revolutionären Kunst endlich genau untersucht.[8] [Helga Ullmann: Ein Frühwerk Proletarisch-revolutionärer Kunst – eine neue Stufe des Realismus. In: Bildende Kunst, Heft 5/1970, S. 238ff. Ingrid Schulze: Karl Völker und die Hallische Künstlergruppe. Zum Verhältnis von Mensch und Arbeit in der frühen proletarisch-revolutionären Kunst Halles. In: Bildende Kunst, Heft 12/1974, S. 598]Dabei kam es auch zur Festlegung eines offiziellen Interpretationsschemas. Gezeigt wird, wie ein expressionistisch Verdunkelter im Kontakt mit der KPD erleuchtet werden konnte. Es muß so gesagt werden, weil der Unterschied zwischen seriöser Forschung mit byzantinischen Ergebenheitsfloskeln und reinem Geschichtskitsch auch damals schon mitteilbar war. Vor allem der Katalog Karl Völker. Leben und Werk von 1976 ist das Dokument eines Erstickens durch Umarmung. Was an der Vita eines Künstlers kontrastreiche, von Aufbruch und Skrupeln, Zögern und Entschluß, Überschwang und Leidenschaft gezeichnete Menschlichkeit hätte bezeugen können, wird hier auf die dürre Linie wachsender Einsicht gebracht. Man könnte auch sagen: Es ist vielleicht schlimm, nach und nach in Vergessenheit zu geraten. Schlimmer aber kann es sein, wieder bemerkt zu werden.

Vor allem dann, wenn das Werk dabei gar nicht in Betracht kommt: Der Katalog erschien nicht 1974, als die Moritzburg die Ausstellung als groß angelegte Retrospektive veranstaltete, sondern zwei Jahre später. 1976 aber war es mit der kulturellen Tauwetterpolitik der Honecker-Ära vorbei. Die Irritationen um einen vielleicht zu engen Realismusbegriff gerieten intern zwar in Gärung, so auf der 1. Jahrestagung der Sektion Kunstwissenschaft im Verband Bildender Künstler vom gleichen Jahr.[9] [Peter H. Feist plädiert hier nochmals für einen weitgefaßten Realismusbegriff, der sich an der Kunstpraxis orientierte, ohne freilich Wirkung zu erzielen.]Wohin die Kulturpolitik aber längst steuerte, wurde an der Ausweisung Wolf Biermanns auch dem Letzten im Dorfe deutlich gemacht. Wie 20 Jahre zuvor ging dann ein erheblicher Teil der künstlerischen Elite von selbst. Nicht, um diesem begabten Salonmenschen Gesellschaft zu leisten, sondern weil seine Ausweisung mit dem Ziel erfolgte, jetzt endgültig die Reihen zu schließen.

Für Karl Völkers Werkbestimmung war das einmal mehr – Pech: Zwei Jahre nach der Ausstellung konnte niemand mehr vor den Bildern kontrollieren, was von ihnen jetzt behauptet wurde. Übrig blieben Exegeseschriften kunstwissenschaftlicher Parteiarbeit. Und die miserablen Reproduktionen einer selektierenden Bildauswahl. Völker einer breiteren Öffentlichkeit auf diesem Wege bekannt zu machen, mußte mißlingen: Die Ansage von 1976 trug entscheidend dazu bei, der Nachwelt dieses Werk auszureden. Wie sehr, ist daran zu ermessen, daß es 30 Jahre oder nach der Wende noch einmal 18 Jahre dauern konnte, bis es notwendig schien, hier eine Wende auch der Deutung herbeizuführen.

9Damals aber kam es, wie es kommen mußte. Der Eifer fand überall Lenin auf seinen Christusdarstellungen. Um das zu beweisen, wurde vor allem ein anderes Wandbildsystem herangezogen, das Völker, wie die Dorfkirche zu Schmirma, 1921 gemalt hatte. Jetzt handelte es sich um den Sitzungssaal der Produktiv-Genossenschaft Halle-Merseburg. Diese Genossenschaft ist Ende 1920 ins Leben gerufen worden, um die Zeitschrift Klassenkampf in Halle finanzieren und verlegen zu können. Sie wurde von der eben gegründeten KPD herausgegeben. Redaktion, Druckerei und Parteizentrale kamen unter das Dach des ehemaligen Glaucha’schen Schützenhauses in Halle. Das nunmehrige Haus der Partei wurde von dem Architekten Martin Knauthe entsprechend umgebaut. Völker sollte den Saal schmücken. Fritz Kroh, Zeuge der damaligen Geschehnisse, berichtet, daß es keine Themenvorgaben für den Künstler gegeben habe. Völker sollte Vorschläge machen. Der jedoch lieferte keine Entwürfe, er überraschte uns mit der fertigen Arbeit: fünf großen, mit revolutionären Schriftzeilen versehenen Bildern, die die damalige politische Situation treffend charakterisierten.[10] [Fritz Kroh: Karl Völker und die Produktions-Genossenschaft Halle-Merseburg. In: Karl Völker. Leben und Werk. Katalog. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle 1976, S. 31]Die Schriftzeilen lauten: Wacht auf Verdammte dieser Erde, Trotz alledem es lebe die Weltrevolution, Heilig die letzte Schlacht, Im Osten wächst das Licht und Schon steigen an die Sklavenscharen und ihre alte Fessel bricht.

Von den Bildern sind nur grobe Reproduktionen überliefert. Die Malereien selbst wurden von den Nazis 1933 zerstört. Feststellbar aber ist dies: Was immer sie sonst noch waren, die Bilder wären ohne die Vorarbeiten für Schmirma undenkbar gewesen. Auch die Chronologie der Ereignisse unterstreicht das. Die Gründung der Genossenschaft wurde am 12. Dezember 1920 beschlossen, 1921 erfolgte der Umbau des Saales, in dem Völker dann malte, während die Entwürfe für Schmirma, wie noch zu zeigen sein wird, schon Anfang 1921 vorgelegen haben. Aber das Davor und Danach ist hier nicht entscheidend, sondern die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der jeweiligen Bildfolgen in den Gemeinsamkeiten und Unterschieden ihrer jeweiligen Funktion: Die Gestalten des Sitzungssaales sind zwar wie ihre Vorläufer von hoher innerer Monumentalität und wieder frontal und reliefartig aufgebaut. Und ihr Habit ist zeitlos. Doch gibt es einen wichtigen Akzentwechsel. Aus erzählungssatten Heiligengestalten werden herkunftslose Symbolfindungen von bildumfassender Ausschließlichkeit. Heraus kommt formal ein eherner Schablonismus. Die Figurengruppen ballen sich jetzt zu Emblemen, zu Manifestationen personifizierter Programmsymbole, zu reinen Zeichen zusammen: Figuren von appellativer Konstruiertheit beherrschen die Szene. Hinweise auf die Gegenwart gibt eines der Bilder mit angedeuteten Industriebauten im Hintergrund. Dazu jeweils der Rote Stern der Sowjetrepublik, auf den die Hauptfigur zeigt.

Völker dürfte tatsächlich der erste Künstler gewesen sein, der ein Wandbild für die KPD gemalt hat. (Merken als kunsthistorischen Referenzpunkt.) Gesagt werden muß allerdings auch, daß die eiserne Statuarik der Figuren und ihr inneres Kraftliniensystem zwar von drängender Präsenz sind, nur deshalb aber nicht wirklich monströs erscheinen, weil ihnen dadurch das Pathos der Selbstaufopferung abgeht – keine aufgerissenen Hemden und vom Schwure trunkene Augen. Hier siegt das negative Pathos der Geometrie noch über das positive Pathos der Zukunftserstürmung. Die Wandbilder aber erstarren in diesen Überstilisierungen zu gestischen Kaltformen und machen die geistige Zwiespältigkeit der Demonstration nur noch deutlicher: Zwischen christlichem Erlösermotiv und kommunistischem Aufmarsch war die Kunstpassage noch eng – und unerforscht. Ein revolutionäres Bildsystem gab es noch nicht. Man gewinnt den Eindruck, daß die Radikalisierung der Bildform für ein Programm von dieser geistigen Unbestimmtheit künstlerisch nicht taugte. Die Monumentalität wird zur reinen Behauptung. Völker wird das Prinzip, das er hier fand, hellsichtig in seinen Holzschnitten zu einer adäquaten Sprache der Grafik entwickeln und darin kurze Zeit später Bedeutendes leisten. Und so sind die Wandbilder zwar das erfreuliche Dokument einer noch undogmatischen Kunstpolitik der KPD in den frühen 20er Jahren. Für den Künstler aber bedeuten sie, an Schmirma gemessen, eine Verarmung durch Verhärtung, eine Entsinnlichung der Bildgestalt aus Mangel an Übereinstimmung von Erzählung, Mittel und Funktion.

10Die Nähe zur christlichen Motivwelt im Sitzungszimmer ist dann auch überwältigend. Bei Trotz alledem … steht Christus mit erhobener Linker und zeigt in Richtung auf den Stern. Daß es Christus ist, kann nicht mißverstanden werden. Die Figur zeigt ihre Stigmata. Wer sich doch wundert, wie die Genossen das zulassen konnten, sei wieder auf die 1920 entstandene Zeichnung Die Erschießung verwiesen, die sich auf die Niederschlagung der Münchner Räterepublik und auf die Ermordung Liebknechts bezieht. Solcher Darstellungen gab es viele. Der Christus auf der Zeichnung jedenfalls hat wie die Figur auf dem Wandbild ein Einschußloch auf der Stirn. Märtyrer, Kreuzigung, Hinrichtung – man verstand das damals, wie Fritz Kroh ja bestätigt. Auch die Opfersymbolik, auch die Versinnbildlichung des Anbruchs eines noch einmal letzten Zeitalters. Und man bejahte die biblische Umschrift jener humanen Ziele, in deren Namen man kämpfte, als Kunst. In Schon steigen … steht die zentrale Figur also vor den 12 entschlossenen Anhängern wie Christus vor seinen Jüngern. Die Protagonisten mit Bärten und Einsiedlerfrisuren referieren demgemäß die Apostelgeschichte als eine Geschichte der Erweckung, der Einigkeit und der Standfestigkeit im Glauben. Diese Wandbilder sind, wie sie sind, proletarisch adressierte Bekenntnisbilder, entstanden aus einer fast 2000jährigen Hoffnung. In den Bildern dieser Hoffnung.

Deshalb findet sich Lenin in Völkers Bildern auch nicht. Oder doch nur, wer es will und den genannten Schriften von 1970, 1974 und 1976 glaubt. Hier wurde der Mann auf dem Gemälde Christus in der Gasse (1922) gefunden, dann wieder auf dem Wandbild Heilig die letzte Schlacht. Und mochten auch die schulterlangen Haare des Heilands gegen das prominente, aber kahle Vorbild aus Moskau sprechen. Also wurde im Text ein Beschluß gefaßt, um die geheimnisvolle Transsubstantiation zu erklären: An Stelle des Christus als Tröster und Erlöser tritt im Verlauf der Arbeiten an dem Zyklus Lenin, der Begründer der Sowjetmacht. Die Aussage wird von Bild zu Bild politisch klarer, der Reifeprozeß des Künstlers ist nachvollziehbar; der Auftrag der Arbeiterklasse ließ den Künstler wachsen.[11] [Ullmann, wie Anm. 8, S. 242]

Wohin? In das Gefängnis einer Deutung. Darin wird die Geschichte der Arbeiterbewegung zu einem zwar opferreichen, aber reibungslosen Aufstieg in die SED-Historiographie verklärt. Die Kunstgeschichte hatte die Illustrationen zu liefern. Kein Wort in den Texten, wie die Wandbilder der Genossenschaft künstlerisch zu den Deckenbildern von Schmirma stehen, außer daß sich die Motive glichen. Dafür wurden in der Bildenden Kunst von 1970 sogar zwei Referenzabbildungen zu Schmirma gedruckt, ohne Hinweis jedoch, daß es die Bilder noch gibt. Aber selbst derjenige, der das seiner eigenen Unwissenheit zurechnen will, wie ich, wird dennoch die sanfte Hand der Scham über dieses Buch legen, sobald er mit ihm fertig ist. Der Katalog von 1976, der Heimholung und Würdigung hätte leisten sollen, kommt propagandistisch einem Lehrstück der Beflissenheit, wissenschaftlich aber einer Selbstentleibung gleich. Hier wurden sogar Symbole verwechselt, Richterrobe und Pfarrertalar, um Völkers kritische Haltung zur Kirche herauszufiltern, während (oder weil?) er gerade eine ausmalte.

Einmal weniger wundert es, daß die Denkmalpflege 1978 den Maler lieber ausließ, auch wenn die Deckenbilder sich wegen des undichten Kirchdaches in einem beklagenswerten Zustand befanden. Offenbar konnte hier nichts getan werden. Woanders schon. In Halle wurde 1968 beschlossen, statt der Kirche lieber die Lenin-Ecke im ehemaligen KPD-Haus zu rekonstruieren, die 1929 entstanden und auch 1933 zerstört worden war. Wie aus Archivalien im heutigen Stadtmuseum zu ersehen ist, wurde Ende der 80er Jahre sogar der Plan gefaßt, die Völkerschen Wandbilder für den Sitzungssaal neu herzustellen. Dafür zog der Hallenser Maler Henry Deparade, der das Kunststück vollbringen sollte, um der verlorenen Farbigkeit eine Idee abzugewinnen, sogar nach Schmirma. Er studierte dort für die politische Attrappe genau das künstlerisch Authentische, das währenddessen vor seinen Augen verkam.[12] [Ingrid Schulze: Die proletarisch-revolutionäre Hallische Künstlergruppe. Hrsg. Museum für Geschichte der Stadt Halle, S. 59. Dort findet sich auch eine die bekannte Diktion fortsetzende Besprechung der Bilder von Schmirma nebst Abbildungen, die den bedenklichen konservatorischen Zustand der Bilder ungewollt vorweisen. Oder doch gewollt, denn die Schwarz-Weiß-Fotos werden nachgewiesen als zur Universitäts-Film- und Bildstelle Halle gehörig und verschleiern so noch einmal, das Vorhandensein des Werks und behandeln es als Archivalie.])

11Zu den wiedererfundenen Parteiwandbildern kam es nicht mehr, weil mit dem unglaubwürdigen Interpretationsgebäude 1989 das ganze System zusammenbrach (oder umgekehrt?). Die Deckenbilder von Schmirma blieben. Und das ist fast lustig: Was die Konservatoren am Ende seinem Schicksal überlassen mußten, das hatten sie zwei Generationen vorher in Auftrag gegeben und damit die lange Reihe von Arbeiten initiiert, die Völker für diese Institution noch schaffen würde. Es war die Denkmalpflege vor Ort, die den Künstler 1920 für die Ausmalung der Kirche erst vorgeschlagen hatte. Man vermutet, daß der damalige Pfarrer von Schmirma, ein Herr Küstermann, vorgesprochen hatte, um etwas für sein am Schmucke leidendes Gotteshaus zu tun. Max Ohle, Landesbaurat und Provinzialkonservator von Sachsen, empfahl der Gemeinde in einem Brief vom Januar 1921 diesen Künstler.[13] [Entnommen dem Protokoll zu den Voruntersuchungen für eine Restaurierung der Deckenbilder von Schmirma, das Uta Matauschek im Jahr 2000 angefertigt hat. Sie zitiert darin das Dokument aus dem Archiv des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt.]Er kannte Karl Völker bestens. Der Maler hatte schon 1914 die Kuppel der Feierhalle des Gertrauden-Friedhofes ausgemalt und damit Aufsehen erregt. Und Völker hatte auch, mitten im Ersten Weltkrieg, das Rathaus von Halle (1917) mit Wandgestaltungen dekoriert. Außerdem wurde von ihm das Café Bauer in Halle, das der Architekt Bruno Föhre 1917 in ein spätjugendstiliges Expressionsambiente umgestaltete, mit mehreren großformatigen Bildern ausgestattet, veröffentlicht 1918 in der Zeitschrift Innen-Dekoration. Diese Bilder, es gibt sie nicht mehr, waren ebenfalls, den Abbildungen nach, der Auseinandersetzung mit den modernen Formenentwicklungen des Zeit verpflichtet und von spätexpressionistischem Flair. (Extra gezeigt wurden übrigens auch Stuckverzierungen, Pflanzenornamente, die in Schmirma als gemalte Dekorationen an der Altarwand und an den Bänken wiederkehren sollten. Völker hatte während seiner Ausbildung als Modelleur in Riga das Stukkieren gelernt).

Was man bis 1921 in Halle von diesem Künstler zu sehen bekommen hatte, war sicher nicht unumstritten. Und vielleicht deshalb glaubte Herr Ohle auch, sich gegenüber dem Pfarrer noch einmal erklären zu müssen. Das geschah in einem weiteren Brief vom 06. Juni 1921. Er schrieb: Vielleicht werden Sie wissen, sehr geehrter Herr Pfarrer, daß es den modernen Künstlern bisher nur in ganz wenigen Fällen möglich gewesen ist, ihre Kunstwerke für die Kirche dienstbar zu machen, da die besondere Art der Darstellung der heiligen Geschichten meist gewisse Widerstände heraufbeschwört, gegen die schlecht anzukämpfen ist. So hängen die meisten biblischen Historienbilder nicht in Kirchen, wohin sie gehören, sondern in Museen oder Privatgalerien.

Damit ist ein weiterer Gedanke ausgesprochen, der erklärt, was zum Verschwinden dieser Kirchengestaltung beigetragen hat. Die Bilder sind eben tatsächlich in die Dorfkirche und nicht ins Museum gelangt. Das muß man natürlich nicht bedauern. Aber allein diese Tatsache hat gewiß dazu beigetragen, in den 20er Jahren die Aufmerksamkeit der metropolitanen, vor allem der Berliner Presse von der Kenntnisnahme abzuhalten. Die Bilder waren nirgendwo ausgestellt und wurden auch nicht publiziert. Und in Berlin dröhnte der Kampf der Richtungen. Der Expressionismus, das spürte jeder, war tot. Dada schockierte die Pelzmänteldamen höher gestellter Banausen und beschäftigte die Polizei. Im Chaos der Ereignisse fielen die politischen Parteien auseinander oder bildeten sich neu. USPD, Spartakusbund, KPD, Putschgefahr und Mord auf offener Straße … Überall neue Zeitschriften, Künstlergruppen, Kampfbünde, Intrigen, Gewalt und krasser Existenzkampf. Die Künstler, ebenso desorientiert wie entschlossen, sich einzumischen, neigten zu Manifesten und exaltierten Kundgebungen ihrer Bereitschaft, sich den jeweils als progressiv erkannten Gruppierungen anzuschließen. Das konnte heftig wechseln und zu Ein- oder Austritten in Kampfzellen führen, ohne daß jemand sich die Mühe gemacht hätte, empfangene Parteibücher auch wieder abzugeben. Noch konnte niemand ahnen, daß davon später das Leben abhängen würde. Das soziale, politische und wirtschaftliche Chaos gebar eine Verwirrung der Begriffe, die alle in ein und dieselbe Richtung wiesen, so mißverständlich sie manchmal auch eingesetzt wurden: christliche Nächstenliebe hier, Menschlichkeit dort, Brüderlichkeit hier, Solidarität dort, Gleichheit hier, Sozialismus dort … Und die Rhetorik der Arbeiterklasse unterlag damals noch nicht der Apparatesprache der Komintern.

12Prophetie, Beschwörung, apokalyptische Visionen, helles Begehren, der Wille zum Umbruch unter Besinnung auf eine Ethik des Urchristentums – das drang aus allen Kreisen und kam nicht nur unter linken Künstlern vor. Auch im konservativen Lager steigerte sich die Tonhöhe. Friedrich Naumann, Mitglied des Reichstages und der Weimarer Nationalversammlung, Mitbegründer zuletzt der Deutschen Demokratischen Partei (1918), schrieb nicht nur zu: Jesus, der Sozialist, sondern auch unter dem Titel Prophetischer Sozialismus, daß eine religiös-soziale Strömung, wenn sie ernst sein soll, etwas Mystisches in sich tragen muß. Wir müssen fühlen, daß Gott in uns arbeitet, wie er in den Propheten des Alten Testaments gearbeitet hat ….[14] [Friedrich Naumann, in: Klassiker des Protestantismus. Von Jan Hus bis Dietrich Bonhoeffer. Bd. 8, S. 220. Dort auch der Text: Jesus, der Sozialist.]

Die Frage also, ob die zentrale Rolle, die christliche Motive zwischen 1910 und 1918 bei der Kritik an Spießbürgertum, Geldadel und pompöser Kaiserwelt gespielt hatten, angesichts des Desasters zwischen Kriegsniederlage, Revolution und Konterrevolution, Arbeitslosigkeit, Streiks und Massenelend überhaupt noch zeitgemäß sei, beantwortete Völker mit seinen Bildern, wie immer sie auch ausfielen, auf der Höhe der Diskussion. Deren Eckpunkte waren, mit dem Ekstatiker Ludwig Meidner zu sprechen: Der Sozialismus soll unser neues Glaubensbekenntnis sein! … Uns Maler und Dichter verbinde mit dem Armen eine heilige Solidarität! … Kameraden, höret weiter: wir müssen wahre Sozialisten sein – die höchste sozialistische Tugend in uns entfachen: Menschenbrüderlichkeit. Das heißt: Güte, Freundlichkeit für einander und Einsicht in das, was uns allen not tut. Höret weiter: Wir müssen Ernst machen mit unserer Gesinnung, dem neuen, wundersamen Glauben. Wir müssen uns der Arbeiterpartei anschließen, der entschiedenen, unzweideutigen Partei … Denn es geht um den Sozialismus – das heißt: um Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenliebe – um Gottes Ordnung in der Welt! So in Das Kunstblatt 1919.[15] [Ludwig Meidner: An alle Künstler, Dichter und Musiker. In: Expressionisten, wie Anm. 2, S. 157]

Den anderen Punkt setzte George Grosz. Er veröffentlichte im Jahr der Entstehung des Schmirmaer Bildes seinerseits im Kunstblatt den Artikel Zu meinen neuen Bildern und teilte darin mit: Ja, es gibt kunstrevolutionäre Maler, welche sich heute noch nicht frei gemacht haben von Christus- und Aposteldarstellungen, heute, wo es revolutionäre Pflicht ist, verdoppelte Propaganda zu treiben, um das Weltbild von den übernatürlichen Kräften, von Gott und den Engeln zu reinigen, um den Menschen wieder den Blick zu schärfen für sein realistisches Verhältnis zur Umwelt. Die längst verbrauchten Symbole und mystischen Verzückungen des dümmsten Heiligenschwindels, von dem die heutige Malerei voll ist, was sollen sie uns noch?[16] [George Grosz, zit. nach: Die Schaffenden. Eine Auswahl der Jahrgänge I bis III. Hg. Beate Jahn und Friedrich Berger, Berlin/Weimar 1984, S. 118]

Völker reagierte auf den Streit, indem er unter der Signatur des Glaubens für eine Kirchengemeinde und zugleich für eine Genossenschaft malte – und doch nur auf seiner Seite blieb. Seine Seite aber hieß, daß er die eigentliche Erfüllung seines Formtriebes erst im Dienst, in der freiwilligen Unterordnung unter eine größere Aufgabe[17] [Hermann Goern. Zum Werke des Malers Karl Völker. In: Karl Völker. Ausstellung im Moritzburgmuseum. Dezernat Volksbildung des Rates der Landeshauptstadt. Halle 1959]fand. So Hermann Goern, der 1949 den einzigen von tieferem Verstehen geleiteten Text zu Lebzeiten des Künstlers geschrieben hat. Dieser Künstler aber hatte über Schmirma zum Schützenhaus einen Weg beschritten, der ikonographisch zwar noch in Meidners Richtung wies, anders als Grosz aber versuchte, statt der einfachen Umkehr einen anderen Abzweig zu finden. Und nicht nur er. 1920 schreibt Paul Westheim, der Herausgeber des Kunstblattes, in einer Rezension zur jüngsten Ausstellung der Novembergruppe: Was da an Versuchen gezeigt wird, setzt als stützenden Untergrund eine gleichartige Architektur voraus. Es könnte sein, daß sich da Möglichkeiten ergeben, wie sie etwa die Wandmalerei des 9., 10. und 11. Jahrhunderts beherrschten, wo es (nach Dehio) das Ziel der Malerei war, die Architektur weiterzuführen, nämlich: › die Flächen zu teilen, Zwischenglieder herzustellen, durch ornamentale Symbole die Leistung der Bauglieder zu interpretieren, kurz, die ruhenden Massen mit rhythmischem Leben zu erfüllen.‹[18] [Paul Westheim: November-Gruppe, wie Anm. 15, S. 170]

13Genau das hat Karl Völker getan. Und er hat auch genau da ausgestellt, worauf die Rezension bezogen ist. 1920 in der Abteilung der Novembergruppe in der Großen Berliner Kunstausstellung. Die Hallische Künstlergruppe, die von Völker mit Richard und Paul Horn, Martin Knauthe und Karl Oesterling 1919 gegründet worden war, hatte sich korrespondierend der Berliner Novembergruppe sofort angeschlossen. Zur gleichen Zeit beginnt Völker erstmals Architektur zu entwerfen, so für das Volkshaus auf dem Roßplatz in Halle, wofür er den Ersten Preis der Ausschreibung erhielt. Dazu schafft er Farbgestaltungen und Deckenmalereien am Rathaus von Halle. 1922 beginnt er mit Bruno Taut zusammenzuarbeiten, der ebenfalls der Novembergruppe angehört und 1921 Stadtbaumeister in Magdeburg geworden ist. Adolf Behne, Schriftleiter des Arbeitsrates für Kunst in Berlin, dem auch Taut und Gropius angehören, ist wie Theodor Däubler und Johannes R. Becher Mitglied der Magdeburger Künstlergruppe Die Kugel, bei der Völker auch ausstellen wird. Ein anderes Mitglied Der Kugel, der Magdeburger Max Dungert, gestaltet 1925 die Glasfenster einer Schule: Das Netz zwischen Personen und Positionen, Arbeit und Ausstellen unter der Prämisse einer den öffentlichen Raum einbeziehenden Aufgabenerweiterung war geknüpft. Und es ging alles parallel und darum sehr schnell.

Curt Glaser, der Kunstberichterstatter des Berliner Börsen-Couriers und zu diesem Zeitpunkt noch am Berliner Kupferstichkabinett beschäftigt, macht in einer Kritik zur Großen Berliner Kunstausstellung von 1923 darauf aufmerksam, wohin die Entwicklung seit Westheim gegangen war. Für die Novembergruppe, an der auch Völker wieder beteiligt war, stellt er fest: Das Kunstwerk in seiner alten Form hört auf zu existieren. Die Persönlichkeit seines Schöpfers schwindet. Nach der Reinkultur des Individualismus in der expressionistischen Gestaltung predigt sie die Umkehr zur abstrakten Form, zum absoluten Raumschmuck, der nicht mehr die Aufgabe der Darstellung hat, weder der Darstellung einer realen Außenwelt, noch der Selbstdarstellung der Künstlerpersönlichkeit.[19] [Curt Glaser: Große Berliner Kunstausstellung. Vorbericht. Berliner Börsen Courier, Nr. 232, 19.05.1923. In: Andreas Strobl: Curt Glaser. Kunsthistoriker – Kunstkritiker – Sammler. Eine deutsch-jüdische Biographie, Köln 2006, S.355]

Kritik ist Scharfstellen. Zwischen dem Trend zur Objektivierung der Kunstsprache in reiner Abstraktion und dem Bezug auf ein Traditionssystem, das dazu bestimmte Vorleistungen geliefert hatte, zwischen der Bewegung, sich vom Staffeleibild zu verabschieden und nicht zur Wand, sondern zur Architektur, zur Raumbildung selbst überzugehen, wie Glaser auch schreibt, zeichnet sich für Völker eine Möglichkeit ab, die er in Schmirma begonnen und über Halle und Magdeburg weiterentwickelt hat. Der Weg: Neben seiner politischen Grafik in den frühen 20er Jahren die Arbeit als Architekt bis 1933. In der Malerei wird er dazwischen, 1924 und 1925, seine bedeutsamsten und eigenartigsten Tafelbilder hervorbringen. Sie sind schon deshalb bemerkenswert, weil sie noch einmal das Unmögliche leisten, nämlich zwischen zwei einander verneinenden Strömungen die Mitte zu halten: jetzt zwischen Neuer Sachlichkeit und Konstruktivismus. Völker, zu seiner Ehre: paßt nirgends.

14Was aus Berlin später ins Ungewöhnliche wies, muß Herr Ohle hier vorausgeahnt und dem Künstler in besonderem Maße vertraut haben. Nur so erklärt sich die Gewißheit, mit der er für Schmirma und Karl Völker eintritt. Denn zuletzt schreibt er an den Pfarrer noch: Können wir heute moderne Künstler für die Ausmalung von Kirchen heranziehen, so haben wir die Gewähr, daß wir etwas schaffen, das die Jahrhunderte überdauert – auch wenn heute sehr viele den neuzeitlichen Bestrebungen gleichgültig oder feindselig gegenüberstehen. Kurzum: ich möchte Sie herzlich bitten, im Interesse unserer ganzen Kunstentwicklung dafür eintreten zu wollen, daß wir in Schmirma etwas Besonderes und Eigenartiges schaffen dürfen; ich habe die feste Überzeugung, daß späterhin nicht nur die Gemeinde dafür dankbar sein wird …

Das stimmt. Nicht nur wurden diese ja Bilder realisiert. Sie haben auch schreckliche Zeiten und jede Gefährdung überdauert. Jetzt, in der Kirche, ist zu fühlen, daß es genau die Entlegenheit und eine verborgene Gemeinde waren, die hier als Segen über den Bildern lagen. Die Gemeinde von Schmirma hat in 80 Jahren ihren Schatz zu hüten gewußt durch die Beharrlichkeit eines in Jahrhunderten entwickelten Sinns dafür, daß die Uhren nicht überall gleich schnell ticken. Eines Sinns, der sich nicht einfach nehmen läßt, was man besitzt und der auch dann unerschüttert bleibt, wenn in den Gewittern der urbanen Aufgeregtheiten schon wieder die neueste, endgültig gültige Kampagne zur Schaffung des Neuen durch Abriß des Alten geritten wird. Auch vor diesem Gedanken befällt einen ein Gefühl der Demut und der Dankbarkeit gegenüber diesen stillen Bewahrern von Kunst.

Andererseits würden die Einwohner von Schmirma ihre Hände nicht über dieses Bildwerk gehalten haben, wenn sie es nicht auch angenommen und verinnerlicht hätten. Und dafür sollte, von der Prophezeiung des Denkmalpflegers einmal abgesehen, vor allem das Werk selber beigetragen haben. Es muß die Gewißheit tief in die Gemeinde eingedrungen sein, daß der Maler in seinen Bildern um eine Gültigkeit rang, die nicht nur für den Tag bestimmt war, sondern der heiklen Aufgabe auch auf Dauer gerecht werden konnte. Und genau das, die innere Übereinstimmung von Bau und Dekoration in Thema und Bild, ist die eigentliche Entdeckung, wegen der allein es sich lohnt, so hartnäckig auf Schmirma zu verweisen. Auch wenn den Schmirmaern das vielleicht gar nicht gefällt, weil die Bißreflexe der Kenner stets nach Zuordnungsbegriffen schnappen und dann mit Sensationen Unruhe verbreiten.

15Darum auch ein Wort über Zuordnungen: Beim Stichwort Expressionismus und Völker wird mir immer ganz mulmig. Nach und nach zeigt sich nämlich, mit welcher Geschwindigkeit er nach 1918 in eine selbständige Formensprache fand und die stilistische Gebundenheiten seiner Anfänge überwunden hat. Schon 1919/20 begann er, seine Auseinandersetzung mit dem Blauen Reiter und vor allem mit Franz Marc hinter sich zu lassen. Solche Einflüsse zeigen sich noch deutlich in dem Gemälde Umbruch von 1918, eine prismatisch zersplitterte, dramatisch aufragende Szene kämpfender Formen, oder in Geburt von 1919, wo Vater, Mutter, Kind diagonal durch die Fläche stürmen als Urformen eines vitalisierten Werdens. Ein Ablösungsprozeß begann sich bei ihm jedoch schon im kleinen vorzubereiten, als Völker zu Bildern kam wie Kindergruppe (Kreide) und Demonstration (Tempera auf Pappe), beide 1920/21. Hier ist die formatfüllende Figurenstaffelung bereits angelegt und das System der Körper flachgehalten. Die Individualität der Personen ist nicht nur noch weiter aufgegeben, sondern in Gesicht und Haltung eine Verallgemeinerung erreicht, die fast naiv, jedenfalls summarisch zu nennen ist. Vor allem die Demonstration wirkt eher anrührend als entschlossen, wie auf dem Holzschnitt gleichen Titels von 1924, wo es nicht mehr um die Kunstwürdigkeit der Armut, sondern um Widerstand ging. 1921 aber sucht Völker eher nach Mitteln für stabilisierte Bildordnungen. Er entfernt sich dabei vom Röhren, Schneiden, Schnaufen des Großstadtorchesters zwischen Schönberg und Petrolchemie. Statt dessen der Drang nach Vergeistigung durch Verfestigung. Aufbau, statt Zertrümmerung, Klärung, statt Vibrieren.

Kontrolliert man das an den Bildern, werden die Hinweise auf Ernst-Ludwig Kirchner, Christian Rohlfs oder gar Emil Nolde, dessen Abendmahl Max Sauerlandt 1913 für die Moritzburg gekauft hatte, ganz vergeblich. Selbst dann, wenn sicher ist, daß Völker all das und noch viel mehr gesehen und mit Kollegen diskutiert hat. Gerade Noldes glühend fettes Farbwesen, das Brachiale einer inneren Übersiedung des Vortrages durch volle Tube und reine Palettenmaterie steht dem Zurückhaltenden einer untermalenden Tempera-, Leimfarben und Trockenmalerei, wie Völker sie pflegte, als Ausdruckswert diametral entgegen. Und sicher auch darum hat Max Sauerlandt, der mutige und engagierte Verfechter des Expressionismus, von Karl Völker keine Kenntnis genommen. Man kann es verstehen. Dessen expressionistische Anfänge bleiben im Staub, den die Vorkämpfer machten, zurück. Und als Völker 1921 bei sich ankam, war Sauerlandt schon nicht mehr in Halle.[20] [So ist auch Matthias Grünewald (Mathis Neithart, zwischen 1460/80–1528) oft genannt. Er wäre kulturgeschichtlich, kunsthistorisch vor allem jedoch stil-ideologisch und als Urvater des deutschen Expressionismus ein Hinweis auf Völkers geistige Herkunftsfragen. Um so mehr, als der Kunsthistoriker Oskar Hagen, der zwischen 1913 und 1918 in Halle lebte, 1919 ein Buch über Grünewald herausgebracht hat. Völker kannte Hagen. Dennoch versucht Völker zu dieser Zeit alles Erregte zu überwinden und seine Bilder in einer streng gebauten Welt zu organisieren. Vgl. Architekturelemente, die er auf dem Bild Heilige Nacht unterbringt. Die Nähe zum 13. Jahrhundert ist evident. Selbst das Licht, das die Szenen der Kreuzigung und der Auferstehung in Schmirma umgibt, ist nicht das einer Gloriole, wie sie Grünewald auf der rechten Innentafel des Isenheimer Altars gemalt hat, sondern eher eine Art Aura oder Dämmer. Von der Suggestivität der Raumtiefe, für die Grünewald berühmt wurde, ganz abgesehen. Die Psychologie des Schmerzes, die Grünewald aus seiner Zeit so weit heraushebt und gerade die Expressionisten elektrisierte, weil sie das Leiden am Kreuz individualisiert, ist bei Völker völlig zurückgedrängt zugunsten des überindividuellen Figuren- und Erzählschemas.]

Sicher haben die Hauptvertreter des Expressionismus die Tore aufgestoßen für einen rabiaten und in die eigene Zeit gesendeten Zugriff auf die biblische Welt. Aber das wurde auch von den verachteten Historienmalern mit ihren ganz anderen Mitteln einer pseudoromantischen, illustrativen oder monumental stilisierten Prunkbildproduktion absolviert. Völker hatte an der Kunstgewerbeschule in Dresden zwar viele wichtige Aufsteiger der Moderne kennengelernt, aber er hat auch bei dem überaus erfolgreichen und ganz Deutschland beglückenden Maler und Bildhauer Richard Guhr studiert. Sein gerade wieder neu vergoldeter und muskelgebeutelter Herkules ziert immer noch das Dresdner Rathaus. Guhr leitete neben seiner Bildhauerei eine Klasse für Dekorative Malerei. Schüler bei ihm war neben Karl Völker – auch Otto Dix, von 1910–14. An dieser Schule waren gleichzeitig Fritz Ahlers und Erich Fraaß, dazu Konrad Felixmüller, der 1911 von dort abging und zur Akademie überwechselte, wie übrigens auch Bernhard Kretzschmar. Auch Martin Knauthe, der Architekt, mit dem Völker später zusammenarbeitete, hatte bis 1911 diese Gewerbeschule besucht. Er war 1913–16 im Halleschen Hochbauamt tätig und gründete mit Völker die Hallische Künstlergruppe, während er von 1921-24 als Stadtverordneter die KPD vertrat. Man fragt sich aber, was das alles sagt, wenn man in Betracht zieht, wie verschieden diese Künstler sich entwickelt haben?

16Biographisch-literarische Ornamentierungen sind so beliebt wie paradox, weil sie im Aufzählen der möglichen Einflüsse dann doch gerade das Einzigartige des erwählten Künstlers beweisen sollen. Dem entgeht niemand. Der Nebel lichtet sich erst, wenn man vor dem Werk selbst steht. Bilder sind die letzte Instanz für ein Urteil. Und vor ihnen kann man sehen: Die Landschaft mit Teich, ein Aquarell von 1920, dessen naives Motiv in Schmirma als Ruhe auf der Flucht und in Christus am See Genezareth wiederkehrt, zeigt den Wandel vom Anklang des Expressiven zu neuen Bauformen, der in Völker innerhalb kurzer Zeit vor sich gegangen war. Zwar taucht in Schmirma der ovale See jeweils wieder auf. Aber die Vordergrundfiguren in der Kirche füllen jetzt die ganze Bildhöhe aus und rücken den See in eine aperspektivische Ferne. Wo auf dem Aquarell noch ein Haus und Bäume das Ufer idyllisieren, spielt sich jetzt in verkleinerter Form die Begegnung mit Petrus mit den Fischern ab. Allein die Darstellungsgröße gibt hier als Simultanerzählung die Entfernung als eine gedachte an – die kleine Szenerie muß weiter hinten sein, bleibt aber in der Fläche. Das Bild ist nunmehr an beiden Seiten von Großformen stabilisiert, links Christus, Petrus und seine Gefährten, rechts eine Baumgruppe, die den Ablauf verriegelt. (Bei der Ruhe sind es beidseitig Palmen.) Der Blick dringt auf beiden Bildern in eine Bildtiefe, die nicht errechnet ist, die keinen Fluchtpunkt mehr besitzt und im Betrachter aus der Vorstellung entwickelt werden muß. Die Bilder stürmen nicht über den Rahmen hinaus, wie man das in den verschiedenen Richtungen des Expressionismus häufig antrifft, wenn jähe Anschnitte die Geschwindigkeit des Bildgeschehens erhöhen. Der Rahmen wird von Völker statt dessen als architektonische Setzung respektiert, in die Bildfindung einbezogen und so zum Bildmittel selbst erhoben. Der Blick geht vom Rand ins Bildinnere und verschafft der Komposition einerseits eine ganz unexpressionistische Festigkeit, zum anderen trägt dieser Wechsel der Mittel dazu bei, den Sog auf das Bildgeschehen zu erhöhen.

17Nun ist dieses Verfahren schon einmal bemerkt worden. Der Kunsthistoriker Theodor Hetzer hat in seinem Buch, das nicht zufällig Giotto – Grundlegung der neuzeitlichen Kunst heißt, auf dieses Phänomen als einem völlig neuen in der Wandmalerei des Abendlandes aufmerksam gemacht. Er befindet, daß Giottos Blickführung sich gegenüber den Vorläufern darin unterscheidet, daß sie durch Stellung und Bewegung der Figuren sich vom Rahmen nach dem Innern der Fläche wendet.[21] [Theodor Hetzer: Giotto. Grundlegung der neuzeitlichen Kunst. Stuttgart 1981, Zitate, S. 43–46]Genau entgegen der Bewegung also, die das Auge vor antiken und mittelalterlichen Bildern lenkt. Hetzer sieht darin ein Organisationsprinzip der Bildwahrnehmung, das seitdem und bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts seine Gültigkeit behält. Das 19. Jahrhundert wird das Prinzip zugunsten eines gesteigerten Illusionismus aufgeben, bis es im Werk von Cézanne zu neuen Ehren kommt. Und in Schmirma, auf seine Art.

Diesen Brückenschlag hin zu Cézanne wird als erster Friedrich Rintelen vollziehen, der mit seinem Buch Giotto und die Giotto-Apokryphen von 1912 das Interesse an diesem Meister neu entfachte und seine Bedeutung für ein modernes Weltbild hervorhob. Völker, der genau in dieser Zeit, 1912–13, an der Dresdner Kunstgewerbeschule seinen Meisterkurs besuchte, wird dieses aufsehenerregende Buch gekannt haben, da die Fresken von Padua direkt ins Grundlagenstudium des Wandbildes weisen. Und Völker hatte sich schließlich in der Handwerker- und Gewerbeschule auch als Architekt ausbilden lassen, so daß ihm aus beiden Richtungen Wissen über den Raum, seine Konstruktionen und dessen Bildordnungssysteme zufloß.

Theodor Hetzer, der ein Schüler Rintelens gewesen ist, wird dann die Beschreibung eines Bildverständnisses liefern, das sich von Giotto auch auf Völkers Gestaltungsweise in nachdenklich stimmender Weise übertragen läßt. Er schreibt: Das Geschlossene des Giottoschen Bildes wird nicht allein durch die Festigkeit des Rahmens bewirkt; vielmehr ist für Giottos Bildgestaltung ganz und gar bezeichnend, daß alles abstrakt Lineare, alles Mathematische unzertrennlich mit dem Menschen, seiner Erscheinung und seiner Bewegung verbunden wird. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, daß sich auch die reduzierte, nur die Gestaltung bewegende Natur nicht organisch in den Tiefenraum entwickelt, sondern das Flächenbild versammeln hilft für die Herstellung einer Einheit des Geschehens in der Einheit des Bildes. Die Figuren, schreibt Hetzer, sind durch ihre Umrisse, ihre gliedernden Falten, ihre Flächen allem Architektonischen nahe, womit Giotto den Schauplatz der Handlung darstellt und begrenzt; auch die Formen der freien Natur … sind auf dieselbe Weise dem Gebauten angenähert. Dadurch sind von vornherein alle Teile des Bildes als Linien und Flächen miteinander in Übereinstimmung.

Besser kann man nicht sagen, was künstlerisch, also bildprogrammatisch und formstrukturell bei der Deckenbemalung von Schmirma zum Tragen kommt, ohne daß man Völker zum Giotto von 1921 machen müßte. Nicht darum geht es ja. Sondern um den Verweis auf eine geistige Rückbindung, die der Expressionismus in seine Traditionsberufungen nicht aufgenommen hatte, und was konkret daraus wurde. Dieser Durchbruch hin zu einer Entschlackung und zu einer Vergewisserung dessen, was man innerhalb der Sprachmöglichkeiten der eigenen Gegenwart will und kann, muß als Völkers eigene Leistung betrachtet werden. Was ihm in Schmirma gelang, war eine von genialen Formexperimenten und Farbexaltationen des Expressionismus sich verabschiedende Umorientierung, die ihm eigene und damit neue Bildmöglichkeiten für die Wand eröffnete. Völker geht dabei instinktiv auch hinter den Kubismus zurück, der als analytisches Raumklärungsverfahren ebensoviel Furore gemacht hatte wie er in Deutschland nie verstanden worden ist. Völker, der zum Analysieren und Theoretisieren nicht neigte, mußte die innere Berufung zum Monumentalen[22] [Goern, wie Anm. 17]dazu bestimmen, eher dem Baubegriff des Konstruktiven näherzurücken und dort die Gefühlsansprache zu objektivieren. In seiner politischen Grafik der folgenden Jahre wird Völker, das soll zuletzt gezeigt werden, genau diesen Weg beschreiten.

Die wichtigsten Blätter entstehen zwischen 1921 und 1925 für die Zeitschriften Klassenkampf und Das Wort[Klassenkampf. Hrsg. KPD, Bezirk Mitteldeutschland, seit Nr. 100, 1920/1922: Bezirk Halle-Merseburg. (1919–1933). Das Wort. Unabhängige Wochenschrift für Mitteldeutschland. Hrsg. von Fritz Kroh. Später: Blätter zur Wirtschaft, Politik und Kunst. Jg. 1, 1923–3.1925]. Die Geschichte der Presse-Grafik muß hier übergangen werden. Die Namen anderer Mitarbeiter an seiner Seite sind aussagekräftig genug, um ein paar Lichter zu setzen: Alfred Beier-Red, Richard Horn, Sandor Ek, Max Lingner … Die Frage, die hier steht, ist, was Völker innerhalb dieser Geschichte und neben seinen Kollegen für sich selbst gewann. Alle diese Künstler haben einem ähnlichen politischen Umfeld angehört, in mehreren Zeitschriften und Zeitungen publiziert und waren in entsprechenden Künstlervereinigungen organisiert. Selbst die Ästhetik der Titelseiten, etwa der Aktion, der Roten Fahne oder Die Junge Garde gleichen denen der Halleschen Publikationen. Das ist nicht unwichtig, weil überall unter dem Schriftbalken jeweils ganzseitige Abbildungen gedruckt wurden, die von den Grafiken hohe Signalität, Einprägsamkeit und sofort verständliche Bildlösungen verlangten. Wenn man Völkers Holzschnitte mit denen seiner Kollegen jedoch vergleicht, fällt zuerst auf, daß er seine Bildsprache deutlicher als alle reduziert. Er setzt die Motive frontal und plakativ und rückt sie ganz in der Vordergrund. Zudem arbeitet er intensiver als andere mit der Suggestionskraft der schwarzen Fläche. Das Stempelbildhafte reiner Symbolik seiner Schützenhausfiguren (Erlöser) taucht nirgends mehr auf. Die christliche Motivwelt verschwindet ganz. Statt dessen ist alles konkret und eindeutig und aus der Konfrontationen von Formmassen erklärt. Der strenge Aufbau erzeugt ein besonderes Spannungsfeld zwischen Hell und Dunkel, Linie und Fläche. Durch stürzende Linien, durch verkeilte Flächen teilen sich Einzelheit und Vielheit zeichenhaft, und Völker wird zu einem Virtuosen des minimalen Aufwandes. Bis 1924 hat er einen sicheren Formapparat ausgearbeitet, der Wirkungsabsicht, Publikationsmittel und Kunstsprache in Deckung bringt und die innere Dynamisierung der Bilder seit 1921 durch scharfe Schnitte vorantreibt.

18Was das bedeutet, soll ein Beispiel unterstreichen. Etwa die Lithographie Hunger, die Völker in der legendären, von Otto Nagel herausgegebenen Mappe gleichen Titels veröffentlicht hatte (im Krisenjahr 1924). Beteiligt waren an der Mappe neben Käthe Kollwitz auch Max Liebermann und überhaupt Rang und Namen, um die Internationale Arbeiterhilfe (IAH) jetzt mit einer Künstlerhilfe zu unterstützen. Völker hatte schon den Aufruf zur Erhaltung des Achtstundentages unterschrieben, gehörte wie Dix, Felixmüller, Piscator, Grosz und andere in den Umkreis der Roten Gruppe und war aufgefordert worden, sich zu beteiligen. Der Erlös ging an Bedürftige. Sicher wäre schon der Vergleich dieser Arbeit mit den anderen in der Mappe interessant. Das soll hier jedoch unterbleiben, weil es für die inneren Zusammenhänge von Völkers Grafik aufschlußreicher ist, Völker mit Völker zu vergleichen. Der nämlich hatte parallel zu dem Druck für die Hunger-Mappe das fast identische Motiv für die Zeitschrift Das Wort in Holz geschnitten (auch 1924). Legt man die Blätter nebeneinander wird deutlich, wie genau Völker auf die Verschiedenheit der jeweiligen Aufgabe reagiert und so das eine Motiv ebenso behutsam wie bedeutsam variiert, um den verschiedenen Intentionen zu entsprechen. Man kann dann sehen, wie Völker als Grafiker dachte.

Dabei kommt zum Vorschein, daß der Holzschnitt auf Details des Hintergrundes und erst recht auf bestimmtere Raumangaben verzichtet, die in der Lithographie durch das eingezeichnete Gitterfenster und die vordere Tischkante noch gegeben werden. Kahlheit und Raum aber sind Aussagen, die mitsprechen. Mutter und Kind wirken dadurch wie in eine Zelle, wie in ein Gefängnis gesperrt. Die Mappenfassung ist insofern erklärender als das Pressebild. Hinzu kommt: Das durch die Mappe aufgezwungene Hochformat schwächt das Motiv in seinem statischen Aufbau. Überhaupt macht die Lithokreide mit ihrem weicheren Niederkommen auf dem Stein die Härte des Schnittmessers unmöglich. Entsprechend gedämpfter und in Zwischentönen modulierter tritt hier die Mutter mit ihrem Kind hervor. Dadurch schleicht so etwas wie Milieu in das Blatt.

Eine minimale Änderung der Position zwischen den beiden Gestalten verlegt zudem die Aussage der Blätter um eine entscheidende Nuance: Das Kind ist in der Lithographie von der Schulter der Mutter geborgen und von ihrer Hand geschützt. Im straffen Querformat des Holzschnittes aber steht das Kind hinter der Mutter. Verstohlen sieht es hervor. Die Frauenfigur, die sich über den Tisch beugt und eine abstoßend greifvogelhaft zusammengerollte Hand vorzeigt, beansprucht den ganzen Blick. Ihr Gestus, ihr Vordringen, ihre Augen bestimmen Bild und Betrachter. Der Hunger hat Macht!, sagt das. Kein Mitleid! Nicht mit ihr, nicht mit dem Kind, aber auch nicht mit denen, die dafür verantwortlich sind. Aus dem Blatt wird eine Drohung. Und so bekommt die Gestalt des Hungers in diesem gepreßten, sozusagen erniedrigten Geviert, das kein Raum ist und auch keinen Raum läßt, eine ungeheure Wucht, eine Sprengkraft und Dämonie, die um vieles eindringlicher wirkt, als das Vergleichsmotiv der Lithographie. Das Abwehrende wird noch gesteigert vom schmalen Balken, der als Tischfläche grellweiß durch das Bild blitzt. Die Figur schneidet sich so als Dunkel aus dem Dunkel. Die Botschaft heißt nicht mehr: Seht her, wie schlecht es uns geht. Sie heißt: Es ist Zeit für reinen Tisch. In der Lithographie dagegen wird durch die unmerkliche Verschiebung nach vorn das Kind zum Ziel der emotionalen Betrachteraufladung. Eine wichtige Akzentverschiebung, die sich auf den Charakter der Mitteilung grundlegend auswirkt: Das Hochformat wirkt konventioneller. Die Motivierung des Gefühlszugriffs auch. Die Lithographie der Hunger-Mappe hat zwar durch ihre prominenten Nachbarschaften allerlei Ruhm erworben, die ihr verschwisterte Variante des Holzschnittes aber ist künstlerisch überzeugender.

19Ich weiß nicht, welche der beiden Varianten zuerst entstand. Der Holzschnitt jedenfalls ist eine Lehrtafel zum Thema Ökonomie der Mittel, weil alle Aufwendungen ganz der Bildidee unterstellt sind. Für sie wurde nach einem unreduzierbaren Kern der grafischen Möglichkeit gesucht: Ist die Aussage zugespitzt, spitzt sich die Ansage zu. In dem Moment, wo dieser Künstler sich statt einer Losung (Wacht auf Verdammte …) einem Geschehen annimmt (Ruhe auf der Flucht) oder einer Schicksalslage (Hunger), gelingt es ihm, die Komposition so zu radikalisieren, daß die Formensprache geradezu kristallin wird und dennoch die Möglichkeiten der Gattung nicht überfordert. Genau das unterscheidet seine Grafiken von den Wandbildern der Produktions-Genossenschaft, aber auch das eine Wandbild vom anderen. Alles, was zu Schmirma gesagt wurde, die Bedeutung des Umrisses, die Einheit des Motivs in der Einheit der Fläche, das Aufgehen der Handlung in der Konstruktionsweise des Bildes, all das kommt im Holzschnitt zu entschiedenster Ausprägung und zur unantastbaren Klarheit. Damit sei die Bedeutung dieses Wandbildes für Völkers künstlerische Entwicklung noch einmal unterstrichen. Jetzt, in seiner Pressearbeit, erreicht Völker eine Sprachhöhe, die im Deutschland der 20er Jahre nach Beispielen sucht. Jeder Seitenblick auf Horn, Felixmüller, Beier-Red, selbst Dix bestätigt das, ohne daß man den Genannten damit zu nahe treten würde. Die Wirkung, die Überzeugungskraft, kommen ganz aus der Form, nicht aus dem Sujet, wie bei vielen anderen, die Karikaturen, dialogische Gegenüberstellungen, Anspielungen, reine Didaktik oder Propaganda vorziehen. Völkers Bilder sind unmittelbar. Sie müssen als Grafiken nicht abgeschwelgt werden. Was er hervorbringt, ist knallhart, unsentimental und weihelos, wie eine Presse es braucht, die sich nicht zuerst an Intellektuelle wendet. Der Holzschnitt, wie Völker ihn auffaßt, schafft Luft. Die Lithographie aber, die bei Honoré Daumier noch in den bürgerlichen Lesestuben und Salons kursierte, taugt nicht für die Straße. Die Straße hat weder Sinn für Komik noch für Satire. Sie will Signal, nicht Argument.

Daß Völker die Technik des Steindrucks überhaupt für das Motiv einsetzte, dürfte mit dem Charakter der Mappe zusammenhängen. Man brauchte Auflage und ein Original. Deutlich aber wird, was es dann mit dem Indienststellen der Arbeit auf sich hat. Völker gelingt mit dieser Begriffsschärfung für die Verschärfung der Bildsprache etwas, worin die Arbeiten von Käthe Kollwitz oft unterliegen: Ihr bekommt das plakative Zuspitzen nicht, wo Völker, dem der Sinn fürs beredte Detail und den Zwischenton eher abgeht, gerade erst zur Form aufläuft. Diese Blätter sind tatsächlich Völkers originärer Beitrag zu einer proletarisch-revolutionären Kunst. Aber als Kunst.

20Es muß bei der Betrachtung dieser einen Grafik bleiben. Hier ging es lediglich um die Konsequenz, mit der Völker in wenigen Jahren seine künstlerische Eigenart ausarbeitet und wie er sie einsetzt. Von der expressiven Malerei der Anfänge über das Deckenbild in der Kirche bis hin zu den politischen Blättern zeigt sich eine Kontinuität, die zugleich die Offenbarung einer seltenen Begabung für das Monumentale und Architektonische ist. Mit der Ausarbeitung der grundsätzlichen Bildauffassung erfolgt im Gleichklang die Entfaltung der operativen Schaffensbereiche: Die Werkentwicklung zwischen 1915 und 1925 ist künstlerisch begründet, weil in sich selbst beglaubigt. Das Reifen gelang nicht durch Einspruch der Genossen damals, wie das Schaffen beweist, sondern in den 50er Jahren, wie die Biographie beweist. Der Rest ist in den gespenstischen Kreidegrundzeichnungen zu finden, deren Güte aber erst durch die Ausstellung von 1999 gewürdigt und mit 100 Arbeiten dem Publikum auch in ihrer Fülle plausibel gemacht wurden.

So muß darauf hier nicht zurückgekommen werden. Anderes harrt weiter der Entdeckung. Meines Wissens hat noch niemand das Werk des Architekten Völker näher untersucht. Wieder anderes muß in den Zusammenhängen seiner Entstehungszeit genauer analysiert und von Einordnungen, Lesarten, Konstruktionen oder Dekonstruktionen erlöst werden, wenn sie dem Werk nicht standhalten, sondern selbst als Zeichen ihrer Entstehungszeit dokumentiert werden müssen. Welche Stickluft herrschen konnte unter dem Druck politischer Inanspruchnahme, kam am Beispiel des Kataloges von 1976 zum Vorschein. Gerade der aber birgt zugleich auch eine zweite Seite. Helga Ullmann, damals unter der Propagandatrommel von Professorin Ingrid Schulze und Moritzburgdirektor Hein Schierz mit ihrem Beitrag wie auf Wache befohlen, hat den Künstler Karl Völker persönlich gekannt und bewundert. Und sie hat in vielen Jahren ein Werkverzeichnis angelegt, das nicht veröffentlich ist. So wird diese schwierige und langwierige Basisarbeit dazu beitragen, weiteren Forschungen den Weg zu ebnen. Geschichte ist das Substrat vieler Geschichten.

Doch es ging bei meiner Wanderung um weniger und mehr. Wozu ich auffordern oder gar verlocken will, ist etwas eher Selbstverständliches. Man muß wach bleiben und auch das Vertraute aus den Fesseln der Gewohnheit reißen, so angenehm die Wärmlichkeit der eigenen inneren Haushaltung auch sei. Gerade vor Kunstwerken, die nicht eigentlich altern, wird man im Laufe des Lebens sein eigenes Altern bemerken. Manches, was früher begeistert hat, entschwindet, anderes tritt aus dem Winkel. Auch dieser Text ist ein Beispiel dafür, denn ich habe bis eben auch noch geglaubt, es reiche zu wissen, was ich über Karl Völker wußte. Bei Gelegenheit dieser Auseinandersetzung wurde wieder klar, in welchem Maße gute wie böse Vorurteile, Dünkel, Faulheit, Desinteresse und nachlassende Kräfte bestimmen, was dann als Wissen unter die Leute kommt. Bei jedem. So ist es auch an der Zeit, die Gemälde, die Völker zwischen 1924/25 geschaffen hat, einer gediegeneren Würdigung zu empfehlen und sie innerhalb der deutschen Kunstgeschichte und zwischen Neuer Sachlichkeit, Verismus, Magischem Realismus oder Konstruktivismus als den Sonderfall, die sie sind, angemessen herauszustellen. Darum ist es zwar tragisch, daß ein Werk wie das von Karl Völker fast zugedeckt ist von dem, was man die Unbilden der Zeit nennen kann. Aber darin lauert auch die Chance, sich diesem Schaffen noch einmal und sozusagen gedankenbefreit zuzuwenden, um es in seiner ganzen Vielgestaltigkeit und Eigenart zu erfahren und dann – zu begreifen. Insofern war mein Gang nach Schmirma auch mein Gang nach Canossa.

  • [1] Georg Dehio. Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Der Bezirk Halle. Akademie-Verlag, Berlin 1978, S. 340
  • [2] Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland 1905-1920. Katalog. Staatliche Museen zu Berlin, 1986. Von den seinerzeit wegweisenden Aufsätzen ist besonders hervorzuheben: Erhard Frommhold: Politischer Expressionismus – expressionistische Politik, worin auch Völker genannt wird, S. 67
  • [3] Vgl. Peter Guth: Wände der Verheißung. Zur Geschichte der architekturbezogenen Kunst in der DDR, Leipzig 1995, S. 62, 78, 136, 399ff. Vgl. Beitrag von Sabine Meinel in diesem Katalog, wo die Einzelheiten bis hin zur Zusammenarbeit mit dem Architekten Haessler an Entwürfen für den Wiederaufbau Rathenows und des Zeughauses in Berlin ausgewiesen sind.
  • [4] Ebenda, S. 403
  • [5] Cay Brockdorff. In: Günter Feist/Eckhart Gillen: Stationen eines Weges. Dokumentation zur Kunst und Kunstpolitik der DDR 1945–1988, Berlin 1988, S. 30
  • [6] Alexander Abusch. Ebenda, S.35
  • [7] Wolfgang Hütt: Von der Verführbarkeit durch große Magier. Hintergründe zu den Kreidezeichnungen des halleschen Malers Karl Völker. In: Karl Völker. Kreidezeichnungen. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle 1999, S. 7ff. Zur gesamten Problematik: Verfemte Formalisten. Kunst aus Halle (Saale) 1945 bis 1963. Hg. von Dorit Litt und Matthias Rataiczyk. Kunstverein Talstraße, Halle 1998
  • [8] Helga Ullmann: Ein Frühwerk Proletarisch-revolutionärer Kunst – eine neue Stufe des Realismus. In: Bildende Kunst, Heft 5/1970, S. 238ff. Ingrid Schulze: Karl Völker und die Hallische Künstlergruppe. Zum Verhältnis von Mensch und Arbeit in der frühen proletarisch-revolutionären Kunst Halles. In: Bildende Kunst, Heft 12/1974, S. 598
  • [9] Peter H. Feist plädiert hier nochmals für einen weitgefaßten Realismusbegriff, der sich an der Kunstpraxis orientierte, ohne freilich Wirkung zu erzielen.
  • [10] Fritz Kroh: Karl Völker und die Produktions-Genossenschaft Halle-Merseburg. In: Karl Völker. Leben und Werk. Katalog. Staatliche Galerie Moritzburg, Halle 1976, S. 31
  • [11] Ullmann, wie Anm. 8, S. 242
  • [12] Ingrid Schulze: Die proletarisch-revolutionäre Hallische Künstlergruppe. Hrsg. Museum für Geschichte der Stadt Halle, S. 59. Dort findet sich auch eine die bekannte Diktion fortsetzende Besprechung der Bilder von Schmirma nebst Abbildungen, die den bedenklichen konservatorischen Zustand der Bilder ungewollt vorweisen. Oder doch gewollt, denn die Schwarz-Weiß-Fotos werden nachgewiesen als zur Universitäts-Film- und Bildstelle Halle gehörig und verschleiern so noch einmal, das Vorhandensein des Werks und behandeln es als Archivalie.
  • [13] Entnommen dem „Protokoll zu den Voruntersuchungen“ für eine Restaurierung der Deckenbilder von Schmirma, das Uta Matauschek im Jahr 2000 angefertigt hat. Sie zitiert darin das Dokument aus dem Archiv des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen-Anhalt.
  • [14] Friedrich Naumann, in: Klassiker des Protestantismus. Von Jan Hus bis Dietrich Bonhoeffer. Bd. 8, S. 220. Dort auch der Text: Jesus, der Sozialist.
  • [15] Ludwig Meidner: An alle Künstler, Dichter und Musiker. In: Expressionisten, wie Anm. 2, S. 157
  • [16] George Grosz, zit. nach: Die Schaffenden. Eine Auswahl der Jahrgänge I bis III. Hg. Beate Jahn und Friedrich Berger, Berlin/Weimar 1984, S. 118
  • [17] Hermann Goern. Zum Werke des Malers Karl Völker. In: Karl Völker. Ausstellung im Moritzburgmuseum. Dezernat Volksbildung des Rates der Landeshauptstadt. Halle 1959
  • [18] Paul Westheim: November-Gruppe, wie Anm. 15, S. 170
  • [19] Curt Glaser: Große Berliner Kunstausstellung. Vorbericht. Berliner Börsen Courier, Nr. 232, 19.05.1923. In: Andreas Strobl: Curt Glaser. Kunsthistoriker – Kunstkritiker – Sammler. Eine deutsch-jüdische Biographie, Köln 2006, S.355
  • [20] So ist auch Matthias Grünewald (Mathis Neithart, zwischen 1460/80-1528) oft genannt. Er wäre kulturgeschichtlich, kunsthistorisch vor allem jedoch stil-ideologisch und als Urvater des deutschen Expressionismus ein Hinweis auf Völkers geistige Herkunftsfragen. Um so mehr, als der Kunsthistoriker Oskar Hagen, der zwischen 1913 und 1918 in Halle lebte, 1919 ein Buch über Grünewald herausgebracht hat. Völker kannte Hagen. Dennoch versucht Völker zu dieser Zeit alles Erregte zu überwinden und seine Bilder in einer streng gebauten Welt zu organisieren. Vgl. Architekturelemente, die er auf dem Bild Heilige Nacht unterbringt. Die Nähe zum 13. Jahrhundert ist evident. Selbst das Licht, das die Szenen der Kreuzigung und der Auferstehung in Schmirma umgibt, ist nicht das einer Gloriole, wie sie Grünewald auf der rechten Innentafel des Isenheimer Altars gemalt hat, sondern eher eine Art Aura oder Dämmer. Von der Suggestivität der Raumtiefe, für die Grünewald berühmt wurde, ganz abgesehen. Die Psychologie des Schmerzes, die Grünewald aus seiner Zeit so weit heraushebt und gerade die Expressionisten elektrisierte, weil sie das Leiden am Kreuz individualisiert, ist bei Völker völlig zurückgedrängt zugunsten des überindividuellen Figuren- und Erzählschemas.
  • [21] Theodor Hetzer: Giotto. Grundlegung der neuzeitlichen Kunst. Stuttgart 1981, Zitate, S. 43–46
  • [22] Goern, wie Anm. 17
  • [23] Klassenkampf. Hrsg. KPD, Bezirk Mitteldeutschland, seit Nr. 100, 1920/1922: Bezirk Halle-Merseburg. (1919–1933). Das Wort. Unabhängige Wochenschrift für Mitteldeutschland. Hrsg. von Fritz Kroh. Später: Blätter zur Wirtschaft, Politik und Kunst. Jg. 1, 1923–3.1925

Michael Freitag

Nach seiner Wiederbegegnung mit dem Werk Karl Völkers in Schmirma hat uns der Kunsthistoriker Michael Freitag immer wieder eindrücklich mit seinen Texten unterstützt und als Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle und danach der Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg Völkers die Ausstellungen Heilige Geschichten und Gut zum Druck initiiert und ausgerichtet.

Der Text erschien 2007 im Katalog zur Ausstellung Utopie und Sachlichkeit in der Stiftung Moritzburg und gibt, von Schmirma ausgehend, einen tieferen Einblick in Völkers Werk im Rahmen der politischen und kulturpolitischen Wirren des letzten Jahrhunderts. Mit dem Einverständnis des Autors wird er hier ungekürzt wiedergegeben.

Spenden

Wir freuen uns über Ihre Spende zur Restaurierung der von Völker Anfang der 1920er Jahre neugestalteten Holzeinbauten der Schmirmaer Kirche: der Altarwand, des Kirchengestühls und der Empore!

Spendenkonto

Volks- und Raiffeisenbank
Saale Unstrut eG
IBAN
DE09 8006 3648 3100 3230 01
BIC GENODEF1NMB

Anfahrt Schmirma